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Grenzüberschreitungen: 70 Mal eine 125stel Sekunde

Dirk Wildt

Pressefotograf 1982 bis 1991

Als mein neun-jähriger Sohn das Foto mit einer großen Menschenmenge vor einem Atom­kraft-werk entdeckt, fragt er: "Wenn sich so viele Menschen treffen, wird dann das Kraftwerk abgeschaltet?" Nein, sage ich. Aber in Deutschland wurden in diesem Jahr die letzten drei AKW vom Netz genommen, "auch weil seit Jahrzehnten hunderttausende Menschen gegen diese gefährliche Energie protestiert haben", antworte ich ihm.

Müssen es nur viele genug sein, damit sich etwas ändert? Ein kleines Kind stellt eine interessante – und sehr politische – Frage. Offenbar ist Licht vor 37 Jahren in genau der richtigen 125stel Sekunde auf ein Negativ gefallen.

Es ist Aufgabe der Presse, die Zeit und ihren Wandel, die Auseinandersetzung und manch­mal auch den Kampf um den richtigen Weg zu dokumentieren – in Text, Bild und Ton. Nicht immer passt es allen. Bei gewalttätigen Demonstrationen in West-Berlin wur­den 1988 Pressefotograf*innen und Filmteams von der Polizei  verprügelt. Auch ich wurde bedroht. Aktuell stellt eine rechtsextreme Partei im Bundestag den Öffentlich-Rechtlichen Rund­funk in Frage, Querdenker*innen drohen Journalist*innen nicht nur mit Gewalt, sie schlagen auch zu. Wenn keine Presse vor Ort sein soll, dann soll es keine unabhängigen Bilder und Berichte geben. Eine freie Presse ist immer in Gefahr – selbst in unserem Land.

Auch Pressefotograf*innen wissen nicht, was und wann etwas passieren wird: Wer macht eine Pressekonferenz, wann startet ein geheimer Atommüll-Transport, wo wird ein leer­stehendes Haus besetzt? Am 9. November 1989 um 18 Uhr wusste ich nicht, dass ich drei Stunden später am Ost-Berliner Grenzübergang Sonnenallee stehen werde. An dem ich Welt­geschichte erleben und mit meiner Kamera für viele andere dokumentieren durfte – die Maueröffnung der DDR.

Ich habe von 1982 bis 1991 knapp 30.000 Fotos gemacht. Für diese Ausstellung kamen 220 in die engere Auswahl, rund 70 schafften es in diesen Katalog und knapp zwei Dut­zend als Exponat in die Rathausgalerie meiner Gemeinde Neuhaus am Inn.

Den Fokus habe ich auf Grenzüberschreitungen gesetzt.


Zur Person

Der Hamburger Dirk Wildt war von 1982 bis 1991 freischaffender Pressefotograf. Er fotografierte vor allem für die "taz, die tageszeitung". Seine Bilder erschienen unter anderem auch in "Der Spiegel", "stern", "Tempo" und der "Zeit". Von Oktober 1989 bis 1997 arbeitete er in Berlin als Redakteur und kurze Zeit als Finanzcontroller für die "taz". Er berichtete über den Mauerfall und das Zusammenwachsen von Ost- und West-Berlin. 1997 bis 1999 war er Sprecher der Berliner Senatorin für Finanzen, Dr. Annette Fugmann-Heesing (SPD). Bis 2002 arbeitete er als Finanzcontroller für die Tagesspiegel-Gruppe, dann für die g.e.b.b., eine Gesellschaft des Bundesverteidigungsministeriums. Heute ist Wildt freischaffender Software-Entwickler und lebt mit seiner Familie in Neuhaus am Inn im Kreis Passau.